Wir heben ab!
Über den Schwebezustand einer Gesellschaft

Wirtschaft und Kunst - Die Ähnlichkeit zweier Systeme
Künstlerische und wirtschaftliche Entwicklungen scheinen insbesondere in den letzten Jahren oder auch Jahrzehnten in einem sehr engen Zusammenhang zu stehen. Die Großbanken haben die Realwirtschaft auf Grund gesetzt. Durch Spekulationen haben sie sich selbst den Boden entzogen und sind nach einem Schwebezustand abgestürzt. Entgegen der Ansicht der Marktfundamentalisten hat sich auch in der Wirtschaft zunehmend eine Trennung in eine Real- und Finanzwirtschaft vollzogen. Letztere sollte ursprünglich der Realwirtschaft dienen, hat sich aber zunehmend verselbstständigt. Diese Entwicklung läuft parallel zur Mediatisierung der Welt. So wie Kursentwicklungen kaum mehr die Realwirtschaft abbilden können, genauso wenig können unsere Medien die Wirklichkeit wiedergeben. George Soros hat sich die Erkenntnis über den Konstruktcharakter der postmodernen Kultur für die Wirtschaft zunutze gemacht. So wie wir Medien als grundlegende Entscheidungshilfe für unser Handeln verwenden und auf die Wirklichkeit einwirken und sie verändern, so versteht er seine Reflexivitätstheorie in der Wirtschaft. Danach machen wir uns zuerst ein - grundsätzlich immer mangelhaftes - Modell, ein Simulacrum, das unser Denken über die Wirklichkeit beeinflusst. Darauf folgende Entscheidungen und Handlungen verändern diese.¹ „Die Illusion, dass die Märkte letztlich immer recht hätten, entsteht durch deren Fähigkeit, die Fundamentalbedingungen, die sie angeblich nur widerspiegeln, zu beeinflussen.“²
Gewiefte Spekulanten machen sich dagegen keine Illusionen, sondern machen sich mit ihren Hedgefonds die Fehleinschätzung anderer zunutze. Die Wetten der Hedgefonds sind Geschäfte, die in erster Linie Erwartungshaltungen zum Gegenstand haben. Die Waren werden nur noch geliehen und sind beliebig austauschbar. Es gibt keinen engen Bezug mehr zwischen Geschäft und Ware. Symptomatisch für diese Wirtschaft sind die sogenannten Leerkäufe. Es ist ein Wirtschaften mit der Wirtschaft. Es entstehen artifizielle und selbstreferentielle Systeme, die wir aus der Kunst der Postmoderne kennen. Auch sie arbeitet in Form von Zitaten, also mit geliehenen Gegenständen und Motiven (von anderen Werken) und verweist nur noch auf sich selbst. Sie schafft damit künstliche Erlebnisorte mit einem hohen Grad an Ästhetisierung. Da sie dadurch antiaufklärerisch wird, bildet sie keinen Gegenpol zur Wirtschaft. Finanzwirtschaft - und gleichermaßen die Kunst - nehmen keinen Bezug mehr auf einen realen Zustand. Als selbstreferentielle Systeme lösen sie sich von der Umwelt und erhalten eine Eigendynamik. An sich sind es geschlossene Systeme. Sie öffnen sich nur, wenn ein Input der Stabilisierung des Systems dient. Beide Systeme heben ab, solange sie können. Zu solchen abgeleiteten Systemen gehören auch Finanzderivate. Deren Nominalvolumen hat sich in den Jahren 2000 bis 2007 im außerbörslichen Handel versechsfacht und macht heute ungefähr das Zehnfache des weltweiten Bruttoinlandsproduktes aus.³
Dieses Abheben entspricht der heutigen grundlegenden Lebenshaltung, der Euphorie, dem permanenten positiven Denken. Es fehlt die Distanz. Wichtig sind Performanz und Teilnahme. Wer das System kritisiert, wird nicht etwa verurteilt, sondern einfach ignoriert. Nur wer teilnimmt, kann etwas sagen. Wir haben somit ein sich selbst reinigendes System. Es nimmt auf, was ihm dienlich ist und schließt aus, was die Dynamik bremsen könnte. Es bewegt sich, bis die dafür notwendigen Ressourcen enden. Dieses „‘positive‘ performative Ethos“ führt permanent zu wirtschaftlichen und kulturellen Blasen, die notwendigerweise irgendwann platzen.
Entwurf für eine Fassadengestaltung
Schwebezustände in der Kunst der Gegenwart
Nicht nur die Preise der „Neuen deutschen Kunst“ schweben in ungeahnte Höhen, sondern auch ihre Motive und Malweisen vermitteln ein Abheben. Es entstehen „traumartige Landschaften, labyrinthische Räume, verlassene Interieurs, quasi-surreale Kombinationen“. Die Umwelt ist bei manchen Malern ein „ortloser Innen- oder Außenraum, oft eine […] an künstliche Simulationen erinnernde Welt“. Die Bilder der „figurativ collagierenden Rätselmaler“ „[...] betreiben eine dezidierte Enthaltung von gesellschaftlichen Fragestellungen“. In einigen Bildern schweben Figuren, oder der Betrachter beginnt zu schweben. Die Schwerkraft scheint aufgehoben zu sein.
Labyrinthische Räume, Schwebezustände im Wasser und das auf den Kopfstellen von Räumen spielt bereits eine wesentliche Rolle im Tanzfilm Das kleine Museum Velazquez von Bernar Hébert aus dem Jahre 1994. Mariko Mori stilisiert sich als Außerirdische und lässt Ausstellungsbesucher mit Ihrem Wave-UFO der Erdenschwere entschweben. Ihr esoterisch-technischer Mix wird unterstrichen durch die Behauptung, dass Gehirnströme der Besucher an die Decke des Innenraumes projiziert werden sollen, was sich dann zum Running Gag entwickelte. Im Film Matrix lassen Andy und Larry Wachowski die letzten freien Menschen mit dem Hovercraft Nebukadnezzar der verwüsteten Erde entschweben. Der Maler im Manierismus betätigt sich als Regisseur und macht sein Bild zur Bühne. Die Bilder wirken gekünstelt und sollen mehr Objekt der Wahrnehmung sein und weniger etwas Abbilden. Almodovar spannt seinen Reigen Hable con ella zwischen Prolog und Epilog. Beide Teile zeigen ein Ballett, anfangs auf einer erhöhten Bühne und am Schluss scheint eine Frau auch zu schweben. Die Fotografin Rosemary Laing und die Videokünstlerin Eija-Liisa Ahtila lassen Frauen durch die Luft schweben.
Interessanterweise – und davon wird später noch die Rede sein – erleben Inszenierungen von Barockopern eine Hochblüte. Denn „spätestens mit der ersten Arie erlebt man einen jähen Katapultschwung nach oben. Man wird hinaufgeschossen in eine erdenferne Welt und ist auf einmal umgeben von einer anderen Materie. Im Barockopern-Kosmos atmen die Sänger Edelgas, so silberhell und leuchtend klingen ihre Stimmen. Der Koloraturen-Höhenrausch ist für sie der Normalzustand. … Es dauert einen Moment, bis man sich an diese Künstlichkeit gewöhnt hat. Dann erst nimmt man wahr, wie viel Empfindsamkeit dem Artifiziellen innewohnt und wie lebensprall das vermeintlich Ätherische sein kann.“
Die Ausstellung Himmelschwer in Graz hat sich 2003 ausführlich den Themenbereichen wie z. B. Levitation, Schweben und Aufstieg in der Kunst der Gegenwart und Vergangenheit gewidmet. Aber nicht allein die Tatsache, dass schwebende Gegenstände zu sehen sind, bedeutet, dass das Schweben ein Wesensmerkmal der Gegenwartskunst sein kann. Andere Möglichkeiten sind eine poppige, leichte Malweise, das Artifizielle oder das Labyrinthische, welches das rationale Denken in Frage stellt. Vor allem aber ist es die Selbstreflexivität, die die Kunst zum Abkoppeln führt.
Entscheidend für den Charakter des Schwebens sind vor allem das Vorhandensein von Selbstreflexivität, Ironie und Doppelkodierung. Die Selbstreflexivität verhindert, dass keine oder kaum eine Bezugnahme zu irgendeiner Realität vorhanden ist. Die Ironie ist eine distanzierte Haltung, die keine Partei ergreift. Es ist die Haltung eines Menschen, der über den Dingen steht. Sie macht ihn unangreifbar und überlegen. Die Doppelcodierung ist eine Ambivalenz, „durch die ein semantischer Schwebezustand entsteht: Eine Äußerung oder Darstellung ist so angelegt, dass sie auf (mindestens) zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann“.

Manieristisch-barocke Merkmale in der Kunst der Gegenwart
Manierismus und Leere
Doch beginnen wir erst mit den manieristischen Besonderheiten. Der Schwebezustand ist nach der Renaissance ein ganz auffälliges Merkmal. Brueghel und Tintoretto bringen den Betrachter zum Schweben, El Greco seine Figuren. Bei Pontormos Kreuzabnahme tänzeln die Personen, die den toten Christus tragen immer noch auf den Zehenspitzen. Ein wesentliches Motiv fehlt: das Kreuz. Neben der Schwerelosigkeit entsteht auch noch das Gefühl einer Leere, die wir in jeder selbstreferentiellen Kunst erahnen können. Es verwundert deshalb nicht, wenn Robert Klein meint: “Der Manierismus ist eine Kunst der Kunst.“ Neben einer gesteigerten Sinnenhaftigkeit ist „für den Manierismus … außerdem die Vorliebe für wertvolle Materialien und für das Außergewöhnliche, Bizarre. Grotesken und Darstellungen von allerlei ‚grausigem Getier‘“¹ - wie zum Beispiel die Palissy-Keramiken - sind charakteristisch. Wer denkt hier nicht auch an Jeff Koons, Jan Fabre, Matthew Barney, Dinos & Jake Chapman usw.
Im Manierismus werden bedeutungsvolle und dramatische Szenen zu Nebenschauplätzen. Das letzte Abendmahl Christi von Paolo Veronese wird zum Gastmahl im Hause Levi. Der Sturz des Ikarus ist bei Brueghel kaum zu erkennen. Man könnte hier das Verschwinden eines Logozentrismus feststellen, wie er sich in der Postmoderne vollzogen hat. Nach dem Verlust der Seele, dem Verschwinden des Subjektes und somit auch des Autors, existiert der Mensch nur als Unterschied zu seinem nächsten. Präsenz wandelt sich in Differenz. Was bleibt, ist nur noch der Körper. Die Body-Art ist ein letzter Versuch, sich seiner selbst zu vergewissern oder aber auch das Gegenteil. Sie macht den Körper zum Objekt. Als Objekt eines Systems hat der Mensch seine individuelle Freiheit verloren. Man kann das durchaus genießen, solange man von einem System getragen wird. „Man sucht nicht Befreiung, sondern Erleichterung“, meint Klaus Leferink über das Postsubjekt.¹¹ Was dabei aber auf jeden Fall verloren geht, ist die Distanz zum System. Ohne diese büßt man einen Großteil seiner Erkenntnisfähigkeit ein. Das könnte dramatische Folgen haben.
Der Manierismus des 16. Jahrhunderts ist eine Kunst einer Krisenzeit. Die Kirchenspaltung bringt die Gesellschaft und das Gold aus Südamerika die europäische Wirtschaft aus dem Gleichgewicht.¹² Der Manierismus ist die Folge der sog. Europäischen Expansion, einer ersten Globalisierung in der frühen Neuzeit. Wir sehen hier also Parallelen zur Gegenwart.

Barock und Höhendrang
Nicht zufällig fand 2001 in der Kunsthalle Wien die Ausstellung „Eine barocke Party“ statt. Im Katalog wird darauf hingewiesen, dass sich Künstler wie Jeff Koons, Derek Jarmen, Frank Stella, Modemacher wie Vivienne Westwood u. a. direkt auf den Barock berufen.(13) Im Barock nehmen Höhendrang und Dynamik zu. Dreiecksgiebel und Segmentgiebel werden durch einen Druck von unten „gesprengt“. Andrea Pozzos Figuren schweben dem Himmel entgegen. Die manieristische Prunksucht(14) entfaltet sich zunehmend. „Der Barock ist eine zerrissene, antithetische, vom Mangel an Geborgenheit zeugende Epoche.“(15) Zwischen Carpe diem und Memento mori entfaltet sich eine Kultur der Gegensätze. Im Welttheater vereinen sich Weltlust und –flucht. Der barocke Mensch erlebt innere Widersprüche, Schein und Sein. Theatralität, Körperlichkeit und Vanitas sind sowohl im Barock als auch in der Gegenwart immer gleichzeitig vorhanden zu sein. Orlan zeigt sich als barocke Madonna mit entblößter Brust und die Sängerin Madonna tritt in ihrer Performance „Vogue“ als Marie Antoinette auf. Gleichzeitig gehört der Totenschädel zum Repertoire der zeitgenössischen Kunst: Jan Fabre, Particia Piccinini, Subodh Gupta, Adrian Schoorman, Jahn Isaacs, Douglas Gordon, David Lachapelle und natürlich Damien Hirst verwendet ihn. Letzterer wird auch noch von David Pountney in seiner „Agrippina“-Inszenierung in Zürich zitiert. „Im Vanitas-Gedanken [kam das] jubelnd Barocke auf den Boden der Realität zurück, um gleich wieder abzuheben in die Gefilde der absoluten Künstlichkeit …“.(16) Neben der Lust auf Sinnlichkeit gibt es auch die Lust am Grauen.
Wir bevorzugen das Künstliche als eine gereinigte Wirklichkeit, eine ohne Schwere und ohne Schmerz. Es ist die telematische Gesellschaft, die unser Abheben beschleunigt. Sie erzeugt eine Euphorie mit religiösen Zügen. Wir befreien uns von einer Verwurzelungen und können engelsgleich permanent den Standort wechseln. Wir sind allgegenwärtig und schweben über alle Barrieren.
Möglichkeiten der „Grenzverwischung von Außen- und Innenraum“, wie sie bei Fischer von Erlachs Barockarchitektur zu beobachten sind, (17) kommen in gewisser Weise auch in der Gegenwart vor. Die Videokünstlerin Eija-Liisa Ahtila lässt nicht nur Figuren schweben, sondern verwischt Innen und Außen, indem jede Logik zusammenbricht. In „The House“ (2002) werden ferne Stimmen, Zeiten und Orte gegenwärtig. Ahtila beschäftigt sich mit Schizophrenie-Patienten. „… schizophrenen Ausdrucksformen und bestimmten Erscheinungen der modernen Kultur“, wie das Collagieren, Auflösen des Narrativen und das „verwirrende Spiel mit … Perspektiven“(18) nehmen heute zu.

Vertigo und Sturz
Heike Webers Linienmuster verunsichern den Ausstellungsbesucher. „Ich entziehe dem Betrachter den Boden unter den Füßen.“ „Spirale um Spirale, Stabilität und Destabilität, aus dem Raum, aus der Zeit. Raumverlust. Weltverlust. Ent-Ortung, Dislozierung.“(19) Wie erwähnt, kommen dynamische, sich selbst organisierte Systeme erst nach dem Verbrauch ihrer externen Ressourcen zum Ende. Nach dem Aufstieg kommt es zu einem Leerlauf, zu einem rasenden Stillstand ohne jede Außenbeziehung. Feste Grundlagen sind längst verschwunden. Dynamik, Multiperspektivität und Verlust des Ichs (20) führen zu Leere und Verunsicherung. Es kommt zu einer Art Schwindelgefühl. Es findet seinen Ausdruck in einer seltsamen surrealen Ruhe, in der Unfähigkeit, die Situation zu erkennen und der Lethargie gegenüber herrschenden Missständen. Es herrscht business as usual. Ohne Außenbeziehung wird das System blind. Es erkennt weder die Ursachen noch die Folgen seines vergänglichen Erfolges. Nach Aufstieg, Euphorie und Schizophrenie bildet Vertigo den Übergang zum Sturz. Der Erlahmung folgt die Bruchlandung. Nur eine Distanz zum System könnte die Wucht des Aufpralls mindern.
Hermann Präg, 2009

Literaturnachweis:

1   Nach Thomas Seifert: Das Ende der Finanzmärkte, Die Presse, S 33, 14. 10. 2008
2   Georges Soros, zitiert von Th. Seifert, a.a.O.
3   Der Spiegel, 29. 9. 2008
4   Hassan, Ihab, in: Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmoderne- Diskussion, hrsg. von Wolfang Welsch, S 52
5   Glucksmann, André: Eine sehr postmoderne Krise, Die Welt Online, 22. 11. 2008, http://www.welt.de/welt_print  /article2764536/Eine-sehr-postmoderne- Krise.html
6   Holger Kube Ventura: Lost in Ölschinken, http://www.freitag.de/2007/12/07121101.php, 2007
7  Spahn, Claus: Lauter Wahnsinnige auf Edelgas, Die Zeit, 10. 6. 2009, Nr. 25
8  Eder, Jens: Oberflächenrausch, Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, 2. Aufl. 2008, S 17
9   Klein, Robert, zitiert in: Daniel Arasse: Meine Begegnungen mit Leonardo, Raffael und Co., S 115
10   Das grosse Kunstlexikon, von P.W. Hartmann: Manierismus.
11   Leferink, Klaus: Schizophrenie als Modell des Postsubjekts, http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte2/leferink.htm
12   Arasse, Daniel: Meine Begegnungen mit Leonardo, Raffael und Co., S 116
13   Folie, Sabine/Glasmeier, Michael: Eine barocke Party, Wien 2001, S 26
14   Lexikon der Kunst, Leipzig 1968
15   http://www.literaturknoten.de/geschichte/spezif/literaturg/epochen/ 1600_barock.html
16   Folie, Glasmeier. a.a.O., S 24
17   Folie, Glasmeier, a.a.O., S 16
18   Kuhlmann, Andreas, zitiert in: Klaus Leferink: Schizophrenie als Modell des Postsubjekts, http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte2/leferink.htm
19   Matt, Gerald/Mießgang, Thomas: Vertigo, Wien 2001, S 11
20   Hassan, S 50
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